Übers Scheitern – die Kunst des Hinfallens und des Pflegens der abwegigsten Ideen

Ich atmete tief durch und klickte auf die Website und auf mein Gesuch. In der Mitte des Bildschirms drehte ein Punkt vor sich hin. Die Sekunden fühlten sich wie Stunden an. Er drehte sich langsamer und langsamer. Ich lud die Seite neu. Stellte das WLAN einmal aus und wieder an.

Endlich erschien die Ansicht, und es stand «Guten Tag Frau Lang, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass …» Shit! Mir stiegen die Tränen in die Augen. Nicht weinen! All diese Sch…arbeit für nichts. Es war nicht nur Enttäuschung, es war auch Wut über die Mühe, die sich vergebens anfühlte. Warum konnte es nicht funktionieren? Warum scheitere ich ausgerechnet hier?

Einige Wochen später: Wir schreiben einen Aufsatz über das Thema Glück in Ethik. Ich weiss gar nicht mehr so genau, was ich geschrieben habe, aber als ich ihn zurückbekam, stand in einer Randnotiz meiner Lehrerin: «Siehe Charles Pépin».

Ich war etwas irritiert, gab seinen Namen in der Suchmaschine ein und fand heraus, dass er ein französischer Philosoph ist, der ein Buch namens «Die Schönheit des Scheiterns» geschrieben hat. Irgendwie hat das Lesen dieses Buches meine letzten Wochen sehr genau beschrieben und auch geprägt.

Ich konnte als Kind gut scheitern und machte mir aus Fehlern nichts, denke ich zumindest heute. Denn irgendwann, vielleicht war er auch schon immer da, habe ich einen sehr hartnäckigen Perfektionismus entwickelt.

Seitdem versuche ich, ihn in vielen Situationen meines Lebens wieder loszuwerden. Leider ist das schwierig in einer Gesellschaft, die Fehler oft verschweigt, statt sie zu zelebrieren. Wenn jemand etwas Peinliches macht oder sagt, herrscht oft betretenes Schweigen, selten Lachen. Und wenn sich jemand dann komplett in etwas verrennt, wird diesem Menschen gesagt, dass er sich mehr fokussieren und anstrengen solle.

Aber was, wenn Scheitern ein Experimentierfeld wäre und zelebriert würde? Wenn wir in der Öffentlichkeit auch applaudieren würden, wenn sich jemand peinlich verhält. Charles Pépin schreibt dazu, dass ihm aufgefallen sei, dass dieses Totschweigen von Scheitern nicht überall geschehe, in den USA zum Beispiel werde es oft eher als Charakterstärkung empfunden. Menschen mit grossem Erfolg erzählen, wie sie alles verloren und dann doch das Ziel erreicht haben.

Als ich das Buch von Pépin las, hat mir ein Freund eine schöne Anekdote der Kanti Solothurn erzählt. Dort gibt es nämlich einen sehr «herzigen» Brauch: Fällt in der Mensa jemandem ein Teller herunter, applaudieren und jubeln alle.

Stellen Sie sich dies einmal überall im Leben vor: Schlechte Prüfungen, Absagen oder falsche Hausaufgaben würden gefeiert werden und nicht nur totgeschwiegen. Pépin zufolge bringt einen das Scheitern oft viel weiter, als nur Erfolge zu erleben. Diese Erfahrungen führen dazu, dass man eine Resistenz und Frusttoleranz fürs ganze Leben entwickelt.

Gerade Frauen wird oft gezeigt, dass Fehler für sie peinlich sind. Von ihnen wird ein unrealistisch hohes Mass an Perfektion verlangt: Sie sollen nicht nur die Care-Arbeit leisten, sondern auch im Berufsleben erfolgreich sein. Sie sollen leistungsstark, attraktiv, fürsorglich, stets freundlich und empathisch handeln – ein gesellschaftliches Ideal, das kaum zu erfüllen ist. Und Mädchen müssen sich immer noch verstellen, um nicht zu laut, zu auffällig oder peinlich zu sein.

Unter anderem aus diesem Grund finde ich es wichtig, sich Feminist oder Feministin zu nennen. Der Feminismus hat seine Ziele leider noch lange nicht erreicht, solange Frauen nicht imperfekt, laut und eigenständig sein dürfen. Wenn nicht alle Menschen scheitern und verzweifeln dürfen, um zu lernen, dass dies nie das Ende der Welt bedeutet.

Erschienen im OT, 20.06.2025

https://www.oltnertagblatt.ch/solothurn/niederamt/aus-niederaemter-sicht-emily-lang-uebers-scheitern-die-kunst-des-hinfallens-und-des-pflegens-der-abwegigsten-ideen-ld.2784683