"Amor fati"

Die kleinen Wunder des Zufalls
Ich war platt. "Wirklich?», habe ich sie gefragt. Was für ein Zufall! Aber wie konnte das sein? Ich hatte den Roman erst vor einer Woche gelesen und jetzt das!
Ich sass im Zug und schaute die Frau an, die immer noch etwas verwirrt aussah. Ich habe nur gefragt, ob sie da spiele, um sicherzugehen, dass ich sie richtig verstanden habe, erkläre ich ihr. Sie nickte verwirrt.
Sie wollte mir also wirklich erzählen, dass genau sie in einem Theaterstück die Rolle der Grete spiele, die kleine Schwester des Protagonisten von… Raten Sie mal.
Manche Geschichten begleiten mich über einen längeren Zeitraum, so auch "Die Verwandlung" von Franz Kafka. Es geht um einen Reisenden, der sich in einen Käfer verwandelt. Wir hatten den Roman im Deutschunterricht schon ausführlich diskutiert, sodass mir die Geschichte und die Familie Samsa schon ziemlich zu den Ohren heraushingen.
Die Geschichte hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Momentan wird überall in meinem Leben über Kafka gesprochen. Ich habe einen Artikel darüber gelesen, dass sein Roman bis heute mit verschiedenen psychischen Krankheiten in Verbindung gebracht werde und den Käfer in diversen Reels auf Insta gesehen.
Aber das war nicht der einzige Zufall in den letzten Wochen. Kurze Zeit später traf ich im Zug einen jungen Mann. Der stellte sich als Exfreund einer ehemaligen Nachbarin von mir heraus. Dann traf ich ihn am Wochenende wieder bei einem Theaterbesuch.
Ich habe neulich mit einem Freund über diese Zufälle gesprochen. Er meinte, die Schweiz sei einfach klein sei. Ich wollte ihm erst widersprechen, aber dann überlegte ich, dass es doch Sinn ergibt. Ich glaube aber, das trifft auch auf andere Orte zu, jemand anderes sagte mir nämlich einmal Barcelona sei für sie wie ein Dorf und einige Minuten später trafen wir ihrer ehemaligen Mitbewohner, dann den Vater einer Freundin von ihr.
Zufälle gehören zum Leben und sind die schönsten Überraschungen der Welt. Es ist immer schön, Menschen einfach so zu treffen oder genau das Buch im Bücherbrocki zu finden, dass ich gerade kaufen wollte. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Sachen auf mich warten. Oft schaue ich genau den richtigen Film zur richtigen Zeit. Ich habe mich spontan entschieden, mit einer Person zu reden, die ich nicht kenne. Am Ende habe ich herausgefunden, dass wir gemeinsame Interessen oder Freundschaften haben. Das hätte ich nie erfahren, wenn ich nicht den Mut gehabt hätte, mit jemandem zu reden. In diesen Momenten getraue ich mich nämlich oft nicht mit den Menschen zu reden und wann ich mich getraue, ist für mich auch nicht immer logisch erklärbar.
Wenn ich Brettspiele mit meinen Freundinnen spiele, habe ich bei Spielen manchmal echt unverschämt viel Glück. Oder die anderen haben es. Und dann fangen wir an, uns zu fragen, ob das nur ein Zufall sein kann.
Ein Physiker namens Laplace sagte dazu, dass wir alle Wahrscheinlichkeit berechnen könnten und nur das Unwissen verursacht, dass wir uns einen Zufall nicht erklären können. Das ist mir aber ein bisschen zu kompliziert.
Da ist mir die Position des Philosophen Nietzsche, der sagt, man soll das Zufällige bejahen, schon lieber. Er nennt das "amor fati", also Liebe zum Schicksal. Wir müssen verstehen, dass wir das Schicksal niemals planen können und uns über Zufälle freuen, auch wenn sie im ersten Moment ein kleiner Schock sind. Und ist es nicht gerade das Schöne daran? Dass das Leben nicht planbar ist und dadurch spannend bleibt, dass ich nicht weiss, was als Nächstes kommt, dass manchmal alles schiefläuft und an anderen Tagen alles richtig ist, ist es doch, was meinen Alltag so besonders macht.
Ich komme von einer langen Probewoche nach Hause, bin vollgepackt und steige todmüde aus dem Zug in Däniken aus. Am anderen Ende des Gleises sehe ich meine Nachbarin aus dem Zug aussteigen. Sie lächelt mich an und ich sie. Wie schön, dass ich keine Ahnung hatte.
Erschienen im OT, 01.11.2025
https://www.oltnertagblatt.ch/solothurn/niederamt/gastautorin-emily-lang-ueber-den-zufall-der-das-leben-spannend-haelt-ld.4036646
